Gesichter
Wir haben nur sechzehn Personen aus den mehreren hundert politischen Gefangenen in Russland als Helden unserer Ausstellung ausgewählt. Seit Bestehen der Ausstellung wurden fünf von ihnen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen (siehe Seite „Freigelassene“), und einer von ihnen – Alexei Nawalny – wurde im Gefängnis getötet.
...und mehr als 1.200 weitere Namen.
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Foto: Kirill Kudryavtsev
Alexej Gorinow
Kommunalpolitiker
7 Jahre Haft
Am 15. März 2022 sagte Alexej Gorinow, der stellvertretende Vorsitzende des Abgeordnetenrates im Moskauer Stadtbezirk Krasnoselsky, anlässlich einer Routinesitzung zur Durchführung eines Malwettbewerbs für Kinder, folgende Sätze: „Wie können wir hier über einen Malwettbewerb für Kinder sprechen, während zur selben Zeit jeden Tag Kinder sterben? Zur Information: In der Ukraine sind bereits über 100 Kinder umgekommen. Alle Anstrengungen unserer Zivilgesellschaft sollten darauf abzielen, diesen Krieg zu stoppen und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen.“ Die Vorsitzende des Stadtrates, Elena Kotenotschkina, unterstützte ihren Kollegen.
Kurz darauf wurde, allein aufgrund dieser kurzen Stellungnahme, ein Strafverfahren wegen vorgeblicher Verbreitung von „Fake-News über die russische Armee“ gegen die beiden Abgeordneten eingeleitet. Elena Kotenotschkina verließ Russland, um einer Verhaftung zu entgehen – Alexej Gorinow aber blieb. Nicht, um das System herauszufordern, sondern weil er glaubte, nicht wirklich in Gefahr zu sein. „Bis zu meiner Verhaftung wurde ich weder verfolgt noch irgendwie bedroht. Ich habe immer noch nicht verstanden, warum das Regime auf einmal in dieser scharfen Form gegen mich vorgeht“, sagte er im November 2022.
Alexej Gorinow war schon zu Sowjetzeiten Parlamentsabgeordneter: Er arbeitete als Nachwuchsforscher am Moskauer Institut für Geodäsie, Luftbildfotografie und Kartografie, als er in das Moskauer Bezirksparlament gewählt wurde. Mit einer gewissen Nostalgie erinnert er sich an diese Zeiten, in denen die Menschen sehr viel mehr Freiheit hatten als heute. Als Boris Jelzin 1993 das Parlament mit Panzern beschießen ließ, legte Gorinow, empört über diesen Verstoß gegen demokratische Werte, auf der Stelle seinen Posten als Abgeordneter nieder und wurde Rechtsanwalt. Seit Anfang der 2000er Jahre verteidigt er bei Protestaktionen verhaftete Demonstranten, zum Teil ohne Honorar.
2022 stand Gorinow dann selbst vor Gericht. Aber er ließ sich auch jetzt nicht einschüchtern. Während einer Gerichtsverhandlung hielt er ein DIN-A4-Blatt in die Höhe, auf dem stand: „Braucht ihr diesen Krieg noch?“. Ein Gerichtsdiener stellte sich vor Gorinow, damit die Besucher das Blatt nicht sehen konnten. Alexej Gorinow wurde zu 7 Jahren Haft verurteilt.
Er war der erste, der nach dem neuen Strafgesetzbuchparagraphen gegen die „Verbreitung von Fake-News über die russische Armee“ verurteilt wurde.
Foto: Vladislav Lonshakov
Alexej Nurijew
Feuerwehrmann
Roman Nasrijew
Polizist
19 Jahre Haft
Am 1. August 2023 berichteten russische Medien, dass an nur einem Tag 11 Militärkommissariate in Russland in Brand gesetzt worden waren. In vielen Fällen, so stellte sich heraus, waren die Täter ältere Menschen. In Archangelsk zum Beispiel wurde der Brand von einem 76-jährigen, in Kaluga von einem 78-jährigen Rentner gelegt. Sie erklärten, sie seien telefonisch zu der Tat gezwungen worden, man habe gedroht, ihren Familienangehörigen etwas anzutun. Andere wieder sagten, man habe ihnen versprochen, dass ihnen ihre Schulden erlassen werden würden.
Aber natürlich gibt es auch Menschen, die aus ideologischen Gründen zu Brandstiftern wurden. Am 11. Oktober 2022 zum Beispiel versuchten zwei Männer in der Stadt Bakal in der Region Tscheljabinsk das Gebäude des örtlichen Militärkommissariats in Brand zu stecken. Bei den Tätern handelt es sich um den 37-jährigen Alexej Nurijew, ehemaliger Leiter einer Feuerwehr- und Rettungseinheit, und den 28-jährigen ehemaligen Polizisten Roman Nasrijew. Der Schaden blieb gering. Außer einem Stück Bodenbelag wurde nichts beschädigt, der Brand konnte von den Wachen schnell gelöscht werden.
Nurijew und Nasrijew wurden inhaftiert, angeklagt und wegen Durchführung eines Terroranschlags zu 19 Jahren Haft verurteilt.
Die beiden befreundeten Brandstifter waren bis zu ihrer Tat friedfertige und staatstreue Bürger, brave Familienmenschen, die gern Zeit mit ihren Kindern verbrachten. Nurijew hat eine kleine Tochter und einen 19-jährigen Stiefsohn, Nasrijew eine 4-jährige Tochter und einen kleinen Sohn, der geboren wurde, als er bereits im Gefängnis saß. Nasrijew erklärte, seine Einstellung zu dem Krieg in der Ukraine habe sich gegen Ende des Frühlings 2022 geändert, als ihm bewusst wurde, dass dort in der Ukraine so viele Zivilisten starben. Als dann die Teilmobilmachung in Russland verkündet wurde, und Nurijews Stiefsohn sich im wehrpflichtigen Alter befand, beschlossen er und sein Freund, zu handeln.
Im Juli 2023 erklärte die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ Alexej Nurijew und Roman Nasrijew zu politischen Gefangenen. Zwar sei ihre Aktion gewalttätiger Natur gewesen, so „Memorial“, gleichwohl habe in der Gerichtsverhandlung nicht bewiesen werden können, dass die Täter vorsätzlich menschliches Leben haben gefährden wollen und ihre Handlung erfülle bestenfalls den Straftatbestand der vorsätzlichen Sachbeschädigung.“
Nurijew und Nasrijew selbst sehen sich in keiner Weise als Terroristen. Vor Gericht erklärte Nasrijew: „Ich wusste aus den sozialen Netzwerken, dass durch solche Aktionen der Protest gegen die Teilmobilmachung und gegen die 'spezielle Militäroperation' zum Ausdruck gebracht wird. Aus Gesprächen mit Anderen war mir klar geworden, dass solche Aktionen den Menschen keine Angst machen, weil dabei ja niemand zu Schaden kommt. Die Menschen empfinden diese Einstellung im Gegenteil als sympathisch.“
Foto: Alexandra Astakhova
Michail Kriger
Aktivist
7 Jahre Haft
Seit Kriegsbeginn ist das ukrainische Volkslied „Chervona Kalyna“ zu einem Symbol des Widerstands gegen die russische Invasion geworden. Der Frontman der ukrainischen Band „BoomBox“ machte diesen Marsch ukrainischer Legionäre aus dem Ersten Weltkrieg im Februar 2022 populär. Zu diesem Zeitpunkt war er, wie so viele andere, bereits in die Territorialverteidigungskräfte der Stadt Kiew eingetreten. Später verwendete Pink Floyd ein Fragment seines Songs in ihrem Lied „Hey Hey, Rise Up“, dessen Erlös vollständig an die Ukraine ging.
Es ist nicht verwunderlich, dass gerade dieses Volkslied in Russland verboten wurde, da es ein Symbol des ukrainischen Widerstandskampfes darstellt. Auf der Krim erhielt der Besitzer eines Restaurants, in dem „Chervona Kalyna“ auf einer Hochzeit gespielt wurde, 15 Tage Gefängnis, der DJ und eine Tänzerin jeweils 9 Tage, die Mutter des Bräutigams 5 Tage. Die Mutter der Braut musste eine Geldstrafe von 40.000 Rubeln (ca. 400 EUR) zahlen.
Mikhail Kriger, ein langjähriger Aktivist der russischen Anti-Putin-Bewegung, sang „Chervona Kalyna“ während seines Gerichtsprozesses. Der Staatsanwalt forderte für ihn 9 Jahre Gefängnis wegen „öffentlicher Rechtfertigung von Terrorismus und öffentlicher Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit“. Kriger hatte auf Facebook zwei Beiträge gepostet: „Wir stellen nunmehr offiziell fest, dass heute die Ungeheuer der Tscheka (die Tscheka war die erste Geheimpolizei in der sowjetischen Geschichte Russlands, Anmerkung der Redaktion) die Macht über die Menschen an sich gerissen haben und sie schmatzend und knirschend zermalmen“, schrieb er. Einen Mann, der sich 2018 im Gebäude des Archangelsker FSB in die Luft gesprengt hatte, nannte er einen „echten Helden“. In seinem zweiten Facebook-Post äußerte Kriger über Putin: „Glauben Sie mir, wenn ich es jemals erleben sollte, dass diese KGB-Missgeburt endlich aufgehängt wird, dann werde ich alles tun, um bei diesem inspirierenden Ereignis dabei sein zu können.“
Kriger ist vielleicht nicht der populärste, dafür aber ein umso aktiverer Angehöriger der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung Russlands, und das schon seit den späten 80er Jahren. Seit dieser Zeit nimmt er regelmäßig an Kundgebungen und Aktionen zur Unterstützung politischer Gefangener teil. Von Beruf ist er Baggerfahrer, in den letzten Jahren hat er sein Geld mit der Vermietung von Baumaschinen und der Auslieferung von Lebensmitteln verdient. Kriger gehört sicher nicht zu den Anführern der Opposition, trotzdem war es den Sicherheitskräften offensichtlich ein Anliegen, ihn wegzusperren.
Er sprach aus, was viele Menschen in Russland denken, sich aber aus Angst vor Verhaftung nicht zu sagen trauen. Im Mai 2023 wurde Michail Kriger für seine Worte, zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt.
Foto: Igor Podgorny
Jurij Dmitrijew
Menschenrechtsaktivist
15 Jahre Haft
Am 1. Juli 1997 entdeckte der Menschenrechtsaktivist und Lokalhistoriker Jurij Dmitrijew im Waldgebiet Sandarmoch in der Nähe der Stadt Medweschjegorsk ein Massengrab mit Opfern des Großen Terrors. So wird die Säuberungswelle unter Stalin in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts bezeichnet. Einige Zeit später übernahm er die Leitung des lokalen Büros der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Karelien. Diese Organisation erforscht die politische Verfolgung in der ehemaligen UdSSR und im heutigen Russland. Seitdem Putin, bekanntermaßen ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter, an der Macht ist, wird „Memorial“ verfolgt. 2014 wurde die Organisation als „ausländischer Agent“ eingestuft, 2021 wurde sie durch ein Urteil des Obersten Gerichtes endgültig aufgelöst.
Strafverfahren sind eines der üblichen Mittel, mit dem die russische Administration politisch missliebige Personen einzuschüchtern versucht. Diese Methode wendet man auch gegen die leitenden Mitarbeiter von „Memorial“ an. Jurij Dmitrijew wurde in der Nacht des 27. Juni 2018 festgenommen und wegen der Herstellung von Kinderpornografie und illegalem Waffenbesitz angeklagt. Als Vorwand für diese Anklage dienten Fotos seiner Adoptivtochter, die für einen Bericht über deren Gesundheitszustand an die Vormundschaftsbehörden angefertigt worden waren.
Der Prozess zog sich über 5 Jahre hin. Jurij wurde zunächst freigesprochen, aber die Staatsanwaltschaft legte Berufung gegen das Urteil ein. Es wurde ein neues Strafverfahren eröffnet, diesmal wurde Jurij angeklagt wegen sexueller Gewalt gegen eine Minderjährige.
Jurij Dmitrijew wurde zu 3,5 Jahren Gefängnis verurteilt, in einem Nachverfahren wurde das Strafmaß jedoch auf 15 Jahre erhöht. „Der Historiker Dmitrijew wurde dafür bestraft, dass er Mörder Mörder nannte — Mörder, deren Portraits heute wieder in den Amtsstufen der Behörden hängen. Er erbrachte Beweise für die Verbrechen der Tschekisten (die Tschekisten waren die Mitarbeiter der Tscheka, der ersten Geheimpolizei in der sowjetischen Geschichte Russlands, Anmerkung der Redaktion) von damals, die heute wieder als Helden gefeiert werden“, kommentierte der Journalist Renat Davletgildeev dieses absurde Urteil.
Der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ wurde 2022 zusammen mit zwei anderen der Friedensnobelpreis verliehen. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine mussten die meisten ihrer Mitarbeiter Russland verlassen. Gegen mehrere im Land gebliebene Personen wurden Strafverfahren eingeleitet, die Website der Organisation wurde in Russland blockiert.
Foto aus den sozialen Medien
Natalja Filonowa
Aktivistin, Rentnerin
verurteilt zu 2 Jahren und 10 Monaten
Die Rentnerin Natalja Filonowa lebt im russischen Fernen Osten, in der Teilrepublik Burjatien, die von der Teilmobilmachung besonders hart betroffen war. Männer wurden mitten auf der Straße festgenommen und in Militärkommisariate gebracht. Polizisten holten junge Männer direkt in ihren Wohnungen ab und gaben ihnen gerade einmal 30 Minuten Zeit zum Packen.
Natalja hat sich schon ihr ganzes Leben lang für Menschenrechte eingesetzt, so gab sie eine Zeitung heraus und arbeitete mit verschiedenen oppositionellen politischen Bewegungen zusammen. Nach dem 24. Februar 2022 positionierte sie sich öffentlich gegen den Krieg. Im April 2022 stieg die Rentnerin in einen Bus, wo sie einen großen Aufkleber mit dem Buchstaben „Z“ sah, dem Symbol für die russische Aggression gegen die Ukraine. Sie forderte den Busfahrer auf, den Aufkleber zu entfernen, dieser jedoch rief statt dessen die Polizei.
Im September desselben Jahres wurde Natalja bei einer Kundgebung gegen die Teilmobilmachung festgenommen. Der Staatsanwalt behauptete, sie, eine 60-jährige Rentnerin, habe die vier Polizisten, die sie in einem Polizeiwagen bewachten, tätlich angegriffen. Sie habe einen von ihnen mit einem Stift ins Gesicht geschlagen und einem anderen einen Finger gebrochen.
Nach ihrer Verhaftung wurde Natalja zunächst unter Hausarrest gestellt, da sie einen behinderten Adoptivsohn zu versorgen hat. Als der Sohn einmal bei ihrem Mann zu Besuch war, der in einem anderen Dorf lebte, erlitt dieser einen Herzinfarkt und wurde von einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Der Sohn blieb allein zurück. Natalja musste ihn dort abholen, und deshalb natürlich ihre Wohnung, in der sie in Hausarrest festsaß, verlassen. Sie informierte also den verantwortlichen Inspektor über diese Notsituation, trotzdem wurde sie daraufhin in Untersuchungshaft verbracht, ihr Adoptivsohn in ein Waisenhaus eingewiesen. Es gelang ihm einige Zeit später, eine Nachricht an die Mutter senden, in der er berichtete, dass die anderen Kinder ihn auf Anweisung des Direktors der Einrichtung hänselten und mobbten.
Natalja Filonowa begann einen Hungerstreik, der jedoch ohne Erfolg blieb. Am 31. August 2023 wurde sie zu 2 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt.
Foto: Alexandra Astakhova
Dmitri Iwanow
Aktivist, Student
8,5 Jahre Haft
Am 1. Juni 2022 sollte Dmitri Iwanow an der Fakultät für Rechnungsmathematik und Kybernetik der Lomonossow-Universität Moskau, abgekürzt MSU, der wichtigsten Uni des Landes, sein Diplom verteidigen. Leider konnte er zu diesem für ihn bedeutenden Ereignis nicht erscheinen, denn er befand sich zu diesem Zeitpunkt in Haft. Er saß eine 25tägige Verwaltungsstrafe ab, für die angeblich „wiederholte strafbare Durchführung von Kundgebungen“. Am letzten Tag seiner Haft wurde Iwanow sofort erneut festgenommen: dieses Mal erwartete ihn ein wesentlich umfangreicheres Strafverfahren. Im Juli wurde er exmatrikuliert, da er nicht an seiner Abschlussprüfung hatte teilnehmen können.
Zum ersten Mal hatte Dmitri Iwanow im Jahr 2017 an einer Protestkundgebung teilgenommen. Zu dieser Zeit gingen in Moskau unzählige Menschen auf die Straße, um gegen den damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew zu protestieren. Grund dafür war eine investigative Recherche Alexej Nawalnys über die skandalösen Korruptionsdelikte des ehemaligen russischen Präsidenten, die auf YouTube veröffentlicht wurde. Dmitri, damals noch minderjährig, wurde festgenommen und musste später von seiner Mutter auf dem Polizeirevier abgeholt werden. Sie flehte ihn danach an, nie wieder an Protestaktionen teilzunehmen. Aber Dmitri ließ sich nicht beirrten, er wollte für Gerechtigkeit kämpfen. Als 2018 dutzende Studenten und Dozenten der Lomonossow Universität gegen eine Fanzone bei der Fußballweltmeisterschaft direkt vor den Toren der Uni protestierten, richtete er den anonymen Telegram-Kanal „Protest MSU“ ein.
Dmitri Iwanow unterstützte immer wieder politische Gefangene, sei es im Internet, sei es bei zahlreichen öffentlichen Aktionen; auch nahm er wiederholt an Gerichtsverhandlungen teil. Immer wieder wurde er verhaftet. Allein zwischen 2020 und 2022 verbrachte er über 100 Tage in Haft.
Als Russland die Ukraine angriff, war die Zeit für die Staatsmacht reif, für einen echten Strafprozess gegen den Aktivisten. Er wurde angeklagt wegen Diskreditierung der russischen Armee und wegen der Verbreitung von Fake-News. Als Beweis wurden zehn Posts aus Iwanows Telegram-Kanal angeführt, zum großen Teil Reposts über die Ereignisse in Butscha, Mariupol und anderen ukrainischen Städten. „Alle Vorwürfe klingen für mich vollkommen absurd, und überhaupt dürfte dieses Gesetz, dessen Verletzung man mir vorwirft, grundsätzlich gar nicht erst existieren. Mir tut es gut, einfach nur eine konsequente Haltung zu haben und die Wahrheit zu sagen“, erklärte Dmitri Iwanow in seinem Schlussplädoyer.
In der Prozessakte heißt es: „Durch seine kriminellen Handlungen hat Iwanow, Dmitri, eine Vielzahl von Menschen über das rechtmäßige Vorgehen der russischen Streitkräfte während der Spezialoperation in die Irre geführt, er hat die Autorität und das Ansehen der Streitkräfte der Russischen Föderation in der Gesellschaft untergraben und bei den Bürgern, die seine Stellungnahmen gelesen haben, Furcht und Schrecken, Unsicherheit und Angst vor den Behörden verursacht.“
Im März 2023 wurde der 23-jährige Dmitri Iwanow für dieses angeblich schreckliche Verbrechen zu 8,5 Jahren Haft verurteilt. Die Wiederaufnahme des Studiums an der Universität und die Verteidigung seines Diploms ist nur innerhalb von 5 Jahren möglich, danach müsste er sein Studium wieder ganz von vorne beginnen.
Foto: Sota
Maria Ponomarenko
Aktivistin, Journalistin
6 Jahre Haft
Maria Ponomarenko begann sich erst im Alter von über 40 Jahren politisch zu engagieren. Seit 2020 arbeitete sie für das Online-Projekt „Rusnews“, zu der Zeit bekannt für Streams von Protestaktionen. Außerdem beschäftigte sie sich mit der Situation von Waisenkindern, die dem Gesetz nach mit ihrer Volljährigkeit eine Wohnung vom Staat geschenkt bekommen müssen, in der Realität aber aufgrund der üblichen Korruption oftmals leer ausgehen.
Ponomarenko gelang es, dass gegen mehrere korrupte Beamte Strafverfahren eingeleitet wurden. „Sie hat in ein echtes Wespennest gestochen! Es gab alles: Drohungen, nächtliche Anrufe, nicht zu vergessen die Bußgelder und die Besuche von Sicherheitskräften in ihrer Wohnung. Ich sagte ihr manchmal: 'Maria, vielleicht lässt du das lieber sein? Ich mache mir Sorgen um dich.' Sie aber antwortete: 'Nein, ich gehe bis zum Schluss!'“, erzählt ihre Freundin Jana Drobnohod, ebenfalls eine politische Aktivistin.
Später wurde Maria Ponomarenko mehrmals bei verschiedenen Protestaktionen festgenommen. Für das Video „Putin, tritt zurück! Chabarowsk, ich bin bei euch!“, das sie auf TikTok postete und in dem sie den Präsidenten als „Arschloch“ bezeichnete, das seine Versprechen nicht gehalten hat, wurde sie zu einer Geldstrafe von 50.000 Rubel (damals etwa 500 Euro) verurteilt.
Maria sprach sich auch öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine aus. Im April 2022 wurde sie in St. Petersburg wegen eines Posts auf Telegram festgenommen, in dem sie von der Bombardierung des Theaters in Mariupol durch russisches Militär berichtete. Da die Russische Föderation die eigene Beteiligung an diesem Verbrechen bestreitet, wurde Ponomarenko wegen der „Verbreitung von Falschnachrichten“ über die russische Armee angeklagt. Die Journalistin selbst aber ist davon überzeugt, dass es sich um Rache für ihren Kampf gegen die Korruption in Barnaul handelt.
Marias Tochter Ekaterina beschreibt ihre Mutter so: „Sie ist eine starke, selbstbewusste Frau, sie wird alles durchstehen.“ Und so kämpfte Ponomarenko auch im Untersuchungsgefängnis weiter: Sie erzählte anderen Gefangenen die Wahrheit über den Krieg und protestierte gegen die Gefängnisverwaltung, die Druck auf sie ausübte, um sie zum Schweigen zu bringen. Anfang September 2022 aber kapitulierte sie und schnitt sich die Venen auf.
Maria Ponomarenko hatte nicht nur mit den Behörden Probleme. Als sie irgendwann aus der Untersuchungshaft in den Hausarrest entlassen wurde, musste sie sich mit ihrem Ex-Mann, einem Putinanhänger und Unterstützer des Angriffskrieges in der Ukraine, in derselben Wohnung aufhalten. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen er sie eines Tages sogar beinahe erwürgte. Maria ging daraufhin freiwillig ins Gefängnis zurück, weil ein Hausarrest nur in der vom Gericht zugewiesenen Wohnung durchgeführt werden darf, sie mit diesem Menschen aber nicht in einer Wohnung sein wollte.
Im Februar 2023 wurde Maria Ponomarenko zu 6 Jahren Haft verurteilt. Ihre beiden Töchter standen damit quasi ohne Eltern da: Die Mutter im Gefängnis wegen ihrer Anti-Kriegs-Haltung, und der Vater an der Front, um gegen die Ukraine zu kämpfen.
Alexey Lipzer
Rechtsanwalt
Erwartet ein Urteil,
es drohen bis zu 6 Jahre Freiheitsentzug
Rechtsanwälte in politischen Prozessen sind in Russland längst so etwas wie Hospizärzte geworden. Man kann den unheilbar Kranken nicht vor dem Tod retten und den politischen Gefangenen nicht vor der Strafe. Aber man kann das Leiden lindern und moralische Unterstützung bieten – Rechtsanwälte haben im Gegensatz zu den Angehörigen freien Zugang zu ihren Mandanten.
Die Zahl der Freisprüche in politischen Prozessen in Russland tendiert gegen null. Die Richter tun so, als ob sie einen fairen Prozess führen, doch in Wahrheit ist alles bereits entschieden, sobald der Fall vor Gericht kommt. Jemanden freizusprechen, der die russische Armee „diskreditiert“ oder der Spionage beschuldigt wird, ist undenkbar.
Eine Bewährungsstrafe oder gemeinnützige Arbeit wird mittlerweile als Freispruch wahrgenommen, und wenn ein Anwalt eine Strafe von drei oder vier Jahren Kolonie statt der maximal möglichen sieben Jahre erreicht, gebührt ihm fast eine Auszeichnung.
Oppositionsführer Alexei Nawalny erhielt 2023 für die Leitung der „extremistischen Organisation“ – der Antikorruptionsstiftung (FBK) – die volle Härte des Gesetzes: 19 Jahre. Ja, das ist viel. Aber die Anwälte haben seit der Verhaftung des Politikers im Jahr 2021 alles Menschenmögliche getan. Sie übermittelten auch Nawalnys Botschaften „in die Freiheit“, sodass er selbst aus einem Gefängnis mit dem strengsten Regime seine sozialen Medien führte und den Gegnern des Putin-Regimes Mut machte.
Der Anwalt Alexey Lipzer ist 37 Jahre alt. Seine Mutter, Elena, war Anwältin in dem bekanntesten politischen Prozess der 2000er Jahre – dem Fall Yukos von Michail Chodorkowski. Lipzers Großvater ist Lev Ponomarjow, ein sowjetischer Dissident und russischer Menschenrechtler, der erste „ausländische Agent“ des Landes in persönlicher Eigenschaft.
Lipzer verteidigte Nawalny seit dem Sommer 2022 nicht mehr, doch im Oktober 2023 wurde er zusammen mit seinen Kollegen Igor Sergunin und Vadim Kobsev in Untersuchungshaft genommen. Die Ermittlungen behaupten, dass die Anwälte durch ihren Status „regelmäßig Informationen“ zwischen den FBK-Mitgliedern und Nawalny übermittelten, wodurch es ihm ermöglicht wurde, „weiterhin die Funktionen eines Anführers und Leiters einer extremistischen Gemeinschaft auszuüben“.
„Memorial“ hat alle drei Anwälte als politische Gefangene anerkannt und darauf hingewiesen, dass die Ermittlungen nicht einmal versuchen, ihnen extremistische Straftaten nachzuweisen, sondern lediglich das Ziel verfolgen, „die Anwaltschaft einzuschüchtern und dafür zu sorgen, dass Angeklagte und Verurteilte in politischen Prozessen ohne qualifizierte rechtliche Unterstützung bleiben“. Nawalny nannte die Verhaftung seiner Anwälte „offenkundig rechtswidrig“ und sagte, dass sie „für ihre hervorragende und professionelle Arbeit verfolgt“ würden.
„Nicht einmal der KGB hat Anwälte von Dissidenten verhaftet. Was für eine bleierne Schändlichkeit das alles ist“, kommentierte der Journalist Andrey Loshak die Verhaftung von Nawalnys Anwälten. Solche Vorfälle gab es tatsächlich zuletzt während der Stalin-Ära.
Foto: Fortanga
Sarifa Sautiewa
Aktivistin
7,5 Jahre Haft
Am 23. Februar 1944 begann Josef Stalin mit der Zwangsumsiedlung von mehr als 500.000 Tschetschenen und Inguschen aus ihren kaukasischen Heimatgebieten. Die Operation war im Geheimen vorbereitet worden und als sie anlief, wurde den Betroffenen jeweils nur eine halbe Stunde Zeit gegeben, um ihre Sachen zu packen. Die Behörden begründeten die Zwangsumsiedlung so: „Viele Tschetschenen und Inguschen haben ihr Vaterland verraten, sind zu den faschistischen Invasoren übergelaufen, haben sich Saboteuren und Geheimdiensttruppen angeschlossen.“
Gemäß seinem Lieblingsprinzip der Kollektivverantwortung bestrafte Stalin alle: Frauen, Kinder und Alte wurden in Güterwaggons zusammengepfercht und in Richtung Osten geschickt. Wer Widerstand leistete, wurde getötet. Tausende überlebten die lange Reise nicht, Zehntausende starben nach der Ankunft am Bestimmungsort. Es gab keine Unterkünfte, keine Nahrung, keine medizinische Versorgung. Erst nach Stalins Tod durften Tschetschenen und Inguschen in ihre Heimat zurückkehren.
Viele Jahre später war Sarifa Sautiewa stellvertretende Direktorin der Gedenkstätte für Opfer politischer Repressionen in Inguschetien. Dieses Museum widmet sich hauptsächlich der schrecklichen Geschichte der inguschischen Deportation. Sautiewa leitete das Projekt „Ich bin Augenzeuge“, für das sie die Erinnerungen von Deportierten auf Video aufzeichnete.
2018 vereinbarten der Präsident der tschetschenischen Teilrepublik Ramsan Kadyrow und sein inguschischer Amtskollege Junus-Bek Jewkurow einen Gebietsaustausch zwischen den beiden Republiken. Als die Inguschen davon erfuhren, waren sie nicht nur empört darüber, dass die Republik ihr Land, einschließlich alter Friedhöfe mit Familiengräbern, verlieren sollte, sondern auch darüber, dass ihr Regierungschef sie nicht einmal nach ihrer Meinung gefragt hatte. Die Vorbereitungen für den Austausch waren im Geheimen getroffen worden, genau wie damals Stalins Zwangsumsiedlungen.
Fast die gesamte Republik protestierte gegen das Abkommen mit Kadyrow: Zehntausende Menschen kamen zu Kundgebungen in der Hauptstadt Inguschetiens. Für eine kleine Region von nur einer halben Million Einwohnern im Nordkaukasus, in der es zudem so etwas wie eine Protestkultur nie gab, sind das hohe Zahlen.
Im Nordkaukasus ist es nicht üblich, dass Frauen irgendeine Art von Unabhängigkeit zeigen – noch weniger, dass sie sich politisch betätigen oder gar Demonstrationen organisieren, die nicht mit den Behörden abgesprochen sind: in der Region herrscht ein strenges Patriarchat. Doch Sarifa Sautiewa, eine unverheiratete Frau, ließ sich davon nicht beirren. Sie nahm an Protesten teil, sendete Live-Übertragungen von Protestmärschen und rief in den sozialen Netzwerken dazu auf, auf die Straße zu gehen. Ihren männlichen Verwandten gefiel das ganz und gar nicht. „Sie mag ja sehr klug sein, aber es wäre doch seltsam, eine Frau als einen Anführer zu bezeichnen“, erklärte Sarifas Bruder Chisir später.
Die russischen Sicherheitskräfte sahen das jedoch anders. Als im März 2019 die Proteste nach einer Pause erneut aufflammten, reagierten die Behörden nicht mehr so zurückhaltend wie zuvor. Eine der Demonstrationen wurde von einer Spezialeinheit zerschlagen, die Demonstranten leisteten Widerstand, mehrere Polizisten wurden verletzt.
Sarifa Sautiewa wurde nach dieser Demonstration verhaftet und vor Gericht gestellt. Von den 8 Angeklagten im sogenannten „Ingusch-Fall“ ist sie die einzige Frau. In Inguschetien sagt man, die Behörden wollten „die gesamte Nation demütigen, um den Widerstand so schmerzhaft wie möglich zu unterdrücken.“
Alle Beteiligten im „Ingusch-Fall“ wurden für schuldig befunden, „mit organisierter Gewalt das Leben und die Gesundheit von Regierungsbeamten bedroht“ und „an einer extremistischen Vereinigung teilgenommen zu haben“. Die Organisatoren der Kundgebung hätten angeblich geplant, Jewkurow, den Führer der Teilrepublik, zu stürzen.
Im Dezember 2021 wurde Sarifa zu 7,5 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Oktober 2022 heiratete sie in der Haft Ismail Nalgiew, einen der anderen im Ingusch-Fall Angeklagten.
Foto: Memorial
Wsewolod Koroljow
Dokumentarfilmer, Dichter
Wartet auf sein Urteil
Es begann, wie es im heutigen Russland üblich ist, um 6 Uhr morgens mit einer eingeschlagenen Wohnungstür und anschließender Wohnungsdurchsuchung. FSB-Beamte stürmten Wsewolod Koroljows Wohnung. Ihm wurde vorgeworfen, in mehreren Beiträgen in den sozialen Netzwerken „Fake-News“ über die von der russischen Armee begangenen Verbrechen, verbreitet zu haben, darunter die in Butscha. Das war im Juli 2022.
Seit Kriegsbeginn hatte Wsewolod Koroljow nicht nur in den sozialen Netzwerken über die Ereignisse in der Ukraine geschrieben. Er drehte auch mehrere Dokumentarfilme über Aktivisten, die gegen den Krieg in der Ukraine protestieren. Er widmet diese Arbeiten der Künstlerin Sascha Skotschilenko und der Journalistin Maria Ponomarenko, die beide wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ angeklagt und bereits verurteilt wurden.
Koroljow nahm auch an zahlreichen Anti-Kriegs-Protesten teil, bei denen er seine spätere Partnerin Lidija kennenlernte. Einen Monat nachdem sie zusammengezogen waren, wurde er verhaftet.
Der Prozess gegen Wsewolod Koroljow geriet zur Farce. Michail Baranow, der ihn nach Angaben der Ermittler denunziert hatte, nahm seine Aussage zurück und verteidigte stattdessen den Angeklagten: „Jeder soll schreiben, was er will. Das ist Ausdruck der Meinungsfreiheit, die jedem zusteht.“
Vor seiner Verhaftung hatte Wsewolod Koroljow ehrenamtlich Menschen mit geistiger Behinderung geholfen. Seine Freundin Lidija sagt: „Seva bereut nichts. Und für mich persönlich war seine Standhaftigkeit eine Offenbarung. Ich wusste immer von seiner bedingungslosen Güte, seiner Ehrlichkeit und seinem Sinn für Gerechtigkeit. Aber erst diese Situation hat all seine Qualitäten ganz zum Vorschein gebracht.“
Da das Paar offiziell nicht verheiratet ist, sind für Lidija Haftbesuche nicht erlaubt, was besonders hart ist, da Koroljow vielleicht für 10 Jahre ins Gefängnis muss. „Es geht ihnen darum, die Stimmen der Kriegsgegner, der Gegner der russischen Invasion in der Ukraine, zum Schweigen zu bringen und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern“, sagen Vertreter der Menschenrechtsorganisation Memorial, die Koroljow als politischen Gefangenen anerkannt haben.
Foto: Memorial
Igor Baryschinikow
Rentner
7,5 Jahre Freiheitsstrafe
Es scheint eine typische Geschichte für das heutige Russland zu sein: Der 63-jährige Ingenieur Igor Baryschinikow wurde wegen Facebook-Posts ins Gefängnis gesteckt, in denen er über den Beschuss eines Geburtskrankenhauses in Mariupol, die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha und andere schreckliche Ereignisse des Krieges in der Ukraine schrieb.
Die Grausamkeit, die die Staatsanwälte, Richter, Gefängniswärter und Ärzte in diesem Fall gegen einen kranken alten Mann an den Tag legten, ist jedoch immer noch erschreckend.
Während der Untersuchung wurde Baryschinikow unter Auflagen auf freiem Fuß gelassen (mit Ausreiseverbot), weil er sich um seine 96-jährige, gelähmte Mutter Jewgenija kümmerte, die den Holocaust überlebt hatte. Auch er selbst war gesundheitlich angeschlagen: Während des Prozesses verschlimmerte sich eine chronische Erkrankung, und ihm wurde ein Zystostom (eine Röhre, die aus der Blase durch die Bauchwand nach außen führt) eingesetzt. Die Ärzte vermuteten auch Krebs, aber eine Biopsie, die die Diagnose bestätigt oder widerlegt hätte, wurde nicht durchgeführt.
Zeugen der Anklage sagten vor Gericht aus, dass Baryschinikow „oppositionelle Ansichten vertritt und die Regierung kritisiert“ und dass er „vor 5-6 Jahren in seinen Fenstern Parolen gegen Putin ausgehängt und versucht hat, älteren Menschen seine Einstellung zur Regierung aufzuzwingen“. Der Rentner war tatsächlich ein oppositioneller Aktivist in der Stadt Sowetsk: 2021 verbrachte er 30 Tage in administrativer Haft wegen öffentlicher Protestaktionen. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass dies ernsthaft als erschwerender Umstand gelten könnte.
„Mir wird vorgeworfen, ein schweres Verbrechen begangen zu haben. Dabei habe ich niemanden getötet, niemanden ausgeraubt, niemanden vergewaltigt und nichts gestohlen“, sagte Baryschinikow in seinem letzten Wort und bat das Gericht, seinen Gesundheitszustand zu berücksichtigen. Seine Worte beeindruckten das Gericht jedoch nicht: Im Juni 2023 wurde der Rentner mit einem Loch im Bauch wegen der Verbreitung von „Falschinformationen“ über die russische Armee zu 7,5 Jahren Haft verurteilt. „Tatsächlich hat das Gericht mit einem einzigen Urteil zwei Menschen getötet“, kommentierte die Anwältin des Rentners das Urteil.
Eineinhalb Monate später starb Baryschinikows Mutter, die in die Obhut der Behörden genommen worden war. In ihren letzten Tagen hielt sie laut der Anwältin ständig ein nicht funktionierendes Telefon ans Ohr und wiederholte: „Igorjotschek, mein Sohn, dir geht es schlecht…“
Der Sohn durfte nicht zur Beerdigung, und im Dezember verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand. „Ich fühle mich schlecht: Ich kann nicht sitzen, nicht einmal auf der Seite, ich habe Schmerzen in der Leistenregion, ich kann mich nur mit Mühe und Schmerzen bewegen und habe Schmerzen beim Wasserlassen“, schrieb er aus der Kolonie. Er musste den Katheter zur Ableitung des Urins täglich unter unhygienischen Bedingungen reinigen.
Im Januar 2024 wurde Baryschinikow in ein Gefängniskrankenhaus verlegt, wo das Zystostom ausgetauscht wurde, aber eine Operation, die ihm die vollständige Entfernung des Katheters ermöglichen würde, wurde abgelehnt. Im Juli 2024 schickten fast 8.000 russische Bürger Petitionen an die russischen Behörden mit der Forderung, die Operation bei Baryschinikow durchzuführen. Im August schloss sich der UN-Menschenrechtsausschuss diesen Forderungen an.
Foto: Memorial
Antonina Faworskaja
Journalistin
Es drohen bis zu 6 Jahre Haft
„Ich werde Ihnen die Nummer meines Kontos schicken, damit Sie mit Ihrem riesigen Gehalt als Bundesrichter mein Konto 'aufstocken', denn mein Geld geht langsam zu Ende, und dank Ihrer Entscheidungen wird es noch schneller verschwinden“, lacht der Oppositionelle Alexei Nawalny, während er in seiner Gefängniskleidung hinter Gittern steht. Es findet eine Gerichtsverhandlung über eine weitere Klage des Oppositionellen gegen die Leitung der Kolonie „Polarny Wolf“ im Dorf Charp im äußersten Norden Russlands statt. Nawalny nimmt per Videoschaltung aus der Kolonie teil, die Kamera zeigt ihn im Fernseher, dann schaltet sie auf den Staatsanwalt und den Richter: Sie lächeln. Dieses Video wurde von der Journalistin Antonina Faworskaja am 15. Februar 2024 aufgenommen.
Am nächsten Tag gab der russische Strafvollzugsdienst (FSIN) den Tod von Alexei Nawalny in der Kolonie bekannt (die Anhänger des Politikers sind überzeugt, dass er auf Befehl von Wladimir Putin ermordet wurde). Anderthalb Monate später, am 29. März, wurde Faworskaja selbst ins Gefängnis gesteckt – wegen der angeblichen Zusammenarbeit mit der Anti-Korruptions-Stiftung (FBK), die Nawalny gegründet hatte und die in Russland schon vor dem Krieg als extremistisch eingestuft worden war.
Faworskaja arbeitete für die Online-Publikation SOTAvision, besuchte alle Gerichtsverfahren von Alexei Nawalny, machte Fotos und Videos am Grab des Politikers, zu dem Zehntausende Menschen kamen.
Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden, studierte an einer Schauspielschule und spielte 2017 in einer Werbung der beliebten Navigations-App der Firma „Yandex“ mit. Doch nach Beginn der Invasion in der Ukraine, als Hunderte von Journalisten Russland verließen, entschied sie sich, in einem politischen Medium zu arbeiten. „Mein Platz ist in Russland. Ich bin überzeugt, dass man, wenn man sein Land besser machen will, in seiner Heimat leben und arbeiten muss“, schrieb sie in einem Brief aus der Untersuchungshaft.
Im Sommer 2023 war sie die einzige Journalistin, die über das Urteil gegen Sarema Musajewa (die Mutter der Brüder, die den oppositionellen Telegram-Kanal „Adate“ gegen das Regime in Tschetschenien betreiben) in Grosny berichtete. Ihre Kollegin von der „Nowaja Gaseta“, Jelena Milaschina, die aus demselben Grund nach Tschetschenien gereist war, wurde am Vortag von Unbekannten verprügelt, ihr Kopf wurde rasiert und sie wurde mit grüner Farbe übergossen.
„Angst macht dein Leben nur schlimmer. Wenn du dich schon entschieden hast, was du tust, dann solltest du dir darüber im Klaren sein. Entweder du lässt es ganz sein und spielst Häschen in Kindertheaterstücken. Oder du gehst bis zum Ende“, sagte Faworskaja.
Neben ihr wurden 2024 noch vier weitere Journalisten verhaftet: Reuters-Produzent Konstantin Gabow, der mit Associated Press zusammenarbeitende Sergej Karelin, der SOTAvision-Journalist Artjom Kriger (Artjoms Onkel Michail ist einer der Helden unseres Projekts) und die RusNews-Mitarbeiterin Olga Komlewa. Allen wird vorgeworfen, für die FBK zu arbeiten, die in den Medien für ihre Enthüllungen über Korruption in der russischen Regierung und für mehrere populäre YouTube-Kanäle bekannt ist.
Das 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtszentrum „Memorial“ erkannte Faworskaja und ihre „Mitstreiter“ als politische Gefangene an und erklärte, dass „die Journalisten wegen ihrer beruflichen Tätigkeit der Teilnahme an Nawalnys 'extremistischer Gemeinschaft' beschuldigt werden“. Faworskaja selbst ist überzeugt, dass sie wegen ihres „Artikels über die Folter von Nawalny durch den russischen Strafvollzugsdienst“ verfolgt wird.
Im April 2024 erhielt Faworskaja den „Redkollegia“-Preis „Für Mut und Treue zum Beruf“.
Foto: Memorial
Polina Ewtuschenko
Unternehmerin
Es drohen bis zu 22,5 Jahre Haft
Die 25-jährige Polina Ewtuschenko lernte den 36-jährigen Nikolai Komarow über soziale Netzwerke kennen. Sie begannen zu kommunizieren und trafen sich gelegentlich persönlich. Am Morgen des 12. Juli 2023 brachte Ewtuschenko ihre Tochter in den Kindergarten. Als sie auf die Straße trat, wurde sie von mehr als zehn Zivilbeamten der Sicherheitskräfte von hinten überfallen. „Sie legten mir einen Kabelbinder um die Hände und warfen mich ins Auto, als wäre ich ein Sack Kartoffeln. Sie erklärten nichts. Ich dachte, es seien Banditen und sie würden mich umbringen“, erzählte sie später.
Ewtuschenko wurde in Untersuchungshaft genommen und wegen Vorbereitung auf Hochverrat angeklagt. Komarow wurde der Hauptbelastungszeuge.
Es stellte sich heraus, dass der Mann sich absichtlich das Vertrauen von Polina erschlichen hatte: Sie hatte ihre Anti-Kriegs-Haltung offen bekundet, während Komarow an Aktionen der regierungsnahen Bewegung NOD teilnahm und offenbar schon lange mit den Sicherheitskräften kooperierte. 2017 infiltrierte er das Nawalny-Team in Samara und veröffentlichte nach einem halben Jahr „enthüllende“ Videos über sie.
„Ich ging auf freundschaftliche Verabredungen, und dann stellte sich heraus, dass dieser Mensch unsere Gespräche von Anfang an auf einem Diktiergerät aufnahm“, schrieb Ewtuschenko aus der Untersuchungshaft. Auf der Grundlage dieser Aufnahmen kam der FSB offenbar zu dem Schluss, dass die junge Frau versucht hatte, einen Einwohner von Samara zu Hochverrat anzustiften – den Beitritt zur „Legion Freiheit Russlands“, die aus russischen Staatsbürgern besteht, die auf Seiten der ukrainischen Streitkräfte kämpfen. „Er stellte mir viele Fragen über die Legion, und ich habe ihm geantwortet“, sagte Ewtuschenko.
Auf ihrem Instagram-Profil, das Ewtuschenko seit Oktober 2022 auf Ukrainisch führte, postete sie Fotos von Geldscheinen mit Anti-Kriegs-Botschaften, verwies auf eine Petition zur Amtsenthebung Wladimir Putins und auf das Projekt „Ich will leben“, das russischen Soldaten hilft, sich zu ergeben. In ihrer Profilbeschreibung stand: „Nein zum Krieg! Russland wird frei von Putler sein! Ruhm den Helden des freien Russlands und der Ukraine.“
Der FSB bewertete ihre Posts mit weiteren Anklagepunkten, darunter „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“. Die Sicherheitskräfte behaupteten, sie habe „propagandistische Materialien veröffentlicht, die ein positives Bild einer Untereinheit der ukrainischen Streitkräfte zeichneten“ und „Anleitungen für russische Soldaten zur Kapitulation“ verbreitet.
Kurz vor ihrer Verhaftung postete Ewtuschenko ein Foto, auf dem sie ein Diplom für junge Unternehmer in der Hand hält. Neben ihr steht der Wirtschaftsminister der Region Samara. Sie hatte kürzlich einen Online-Shop für Damen-Sportbekleidung auf Wildberries eröffnet, betrieb Laufen und Schwimmen, malte und lernte Schlagzeug zu spielen. Ewtuschenko ist eine natürliche Blondine, färbte ihre Haare aber gerne in verschiedenen Farben. Bei ihrer Verhaftung waren sie blau.
Ihre sechsjährige Tochter Alisa lebt jetzt bei ihrer Großmutter. „Meine Tochter weiß nicht, warum ich weg bin. Ich habe sie in den Kindergarten gebracht und bin verschwunden. Sie ruft mich in die Leere: ‚Mama!‘, schrieb meine Mutter mir. Es tut so weh wegen meiner Tochter. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich fühlt, auch wenn meine Mutter ihr sagt, dass ich sie liebe und bald zurückkommen werde“, schrieb Ewtuschenko.
Aufgrund der Anklagepunkte drohen Polina Ewtuschenko bis zu 22,5 Jahre Gefängnis. Informationen über den Prozess bis zur Urteilsverkündung werden nicht veröffentlicht, da Verfahren wegen Hochverrats in Russland hinter verschlossenen Türen stattfinden.
„Memorial“ erkannte Ewtuschenko als politische Gefangene an und erklärte, dass „die offensichtliche Unverhältnismäßigkeit der Anklage und des Gerichtsverfahrens zeigt, dass der Fall Polina Ewtuschenko weniger der Bestrafung einer Einzelperson wegen einer tatsächlich gesellschaftlich gefährlichen Handlung dient, sondern vielmehr ein Signal an die ganze Gesellschaft sendet: Jegliche Form der Unterstützung für die Ukraine und des Widerspruchs gegen das illegale Handeln der Behörden wird nun auf die härteste Weise bestraft.“
Foto: Memorial
Artem Kamardin
Dichter
7 Jahre Freiheitsstrafe
„Sie haben Artem geschlagen, gedemütigt und gezwungen, die Stange einer Hantel so tief wie möglich in seinen Anus einzuführen — sie drohten, ihm ins Bein zu schießen, falls er es nicht tat. Alles haben sie auf Video aufgenommen und es mir gezeigt, während sie mich an den Haaren hochzogen. Sie nannten uns ‚Nazischweine‘ und sagten, dass ‚es nicht reicht, uns zu töten‘. Sie drohten, uns die Beine zu zerschießen und mich zu fünft zu vergewaltigen“, berichtete die Aktivistin Alexandra Popova. Außerdem klebten sie ihr mit Sekundenkleber Zettel ins Gesicht und rissen sie ihr zusammen mit den Augenbrauen und Haaren wieder ab.
Artem ist ihr Freund. Am 25. September 2022 nahm er in Moskau an den „Majakowski-Lesungen“ teil, einer Tradition, bei der man eigene Gedichte am Denkmal des sowjetischen Dichters vorträgt, die in den 1960er Jahren entstand. Dieses Mal waren die Lesungen der im September verkündeten Mobilmachung der russischen Armee gewidmet. Kamardin trug an diesem Tag ein Gedicht über die prorussischen Milizionäre im Donbass vor, das nicht besonders schmeichelhaft war:
Töte mich, Milizionär!
Du hast schon Blut gekostet!
Du hast gesehen, wie Brüder im Brudervolk
Brüderliche Gräber für ihre Kampfgefährten schaufeln.
Du schaltest den Fernseher ein – und es überwältigt dich.
Am nächsten Tag stürmten Sicherheitskräfte die Wohnung, in der er mit Popova und ihrem Freund Alexander Menjukow lebte, und begannen, die jungen Leute zu foltern.
Neben dem 31-jährigen Kamardin wurden zwei weitere Teilnehmer der Lesungen verhaftet — der 21-jährige Jegor Shtovba und der 26-jährige Nikolai Dajneko. Wenige Monate später wurden die Dichter wegen Aufrufen zu Handlungen gegen die Sicherheit des Staates und wegen Anstiftung zu Hass oder Feindschaft verurteilt. Kamardin erhielt für sein Gedicht 7 Jahre Haft, Shtovba 5,5 Jahre, und Dajneko, der seine Schuld eingestand und einen Deal mit den Ermittlern einging, kam mit 4 Jahren davon.
Vor Gericht bat Kamardin darum, nicht ins Gefängnis geschickt zu werden. „Kunst darf nicht verurteilt werden. Künstlerische Äußerungen können auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, auch wenn sie auf einfachste und verständlichste Weise ausgedrückt werden. Es wird immer Menschen geben, die sie falsch verstehen“, sagte er.
Am 24. Mai 2023 heirateten Kamardin und Popova im Untersuchungsgefängnis. Zur Hochzeit trug Artem einen Brioni-Anzug, den ihm ein Zellengenosse geliehen hatte. Fotografieren war im Gefängnis nicht erlaubt, daher gibt es auf allen Hochzeitsfotos und Videos nur Popova mit Blumenstrauß, aber ohne ihren Mann und ohne Ehering. Stattdessen trug sie eine Attrappe von Handschellen am Handgelenk.
Komm im Dunkeln nach Hause, durch die Hinterhöfe.
Sei vorsichtig,
Und all unsere Hoffnungen werden in Erfüllung gehen.
Du bist meine Revolution!
Du bist alles, was sich nicht in Worte fassen lässt.
Foto: Memorial
Grigory Melkonyants
Wahlbeobachter
Es drohen bis zu 6 Jahre Freiheitsentzug
Im Jahr 2011 drang ein Kamerateam des staatlichen Fernsehsenders NTV in das Büro der Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ ein, die Verstöße bei Wahlen in Russland dokumentierte. Die Journalisten stellten Fragen zur Finanzierung der Organisation. Die Mitarbeiter verweigerten die Antworten, und der damalige stellvertretende Exekutivdirektor Grigory Melkonyants filmte das Geschehen mit seinem Mobiltelefon. Innerhalb von sieben Minuten schaffte er es, 87 Mal den Satz „NTV ist Surkovs Propaganda“ zu wiederholen.
Wladislaw Surkow, zu diesem Zeitpunkt einflussreicher Beamter und stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, baute in Russland eine sogenannte souveräne Demokratie auf. Ehrliche Wahlen passten absolut nicht in dieses Konzept. Melkonyants' Satz wurde zu einem beliebten Meme, und die Wahlfälschungen bei den russischen Parlamentswahlen im selben Jahr 2011 lösten in Moskau und vielen anderen Städten Massenproteste aus.
Der Kreml begann einen erbitterten Kampf gegen „Golos“, das seit dem Jahr 2000 tätig war. 2013 wurde „Golos“ als ausländischer Agent eingestuft. Im Juli 2016 wurde die Organisation auf gerichtlichen Beschluss aufgelöst, aber „Golos“ setzte seine Arbeit als Bewegung zum Schutz der Wählerrechte fort. Im Jahr 2021 wurde das Europäische Netzwerk von Wahlbeobachtungsorganisationen (ENEMO), dem „Golos“ angehörte, in Russland als unerwünschte Organisation eingestuft (eine Zusammenarbeit mit einer solchen Organisation kann eine Haftstrafe nach sich ziehen).
Im Oktober 2022 wurden Melkonyants, anderen Führungspersonen von „Golos“ und regionalen Aktivisten durchsucht. Melkonyants plante jedoch nicht, Russland zu verlassen. Er war ein diplomatischer Mensch und stellte sich nicht als Oppositioneller dar. Zudem war er von 2015 bis 2016 Mitglied des Expertenrats des russischen Menschenrechtsbeauftragten und gehörte der Expertengruppe für öffentliche Wahlbeobachtung bei der russischen Zentralen Wahlkommission an.
Dennoch wurde Melkonyants im August 2023 wegen der Organisation einer „unerwünschten“ Organisation in Untersuchungshaft genommen. Weder die Bewegung noch die Organisation „Golos“ wurden jedoch von den russischen Behörden als „unerwünscht“ eingestuft, und nur die bereits aufgelöste Organisation war Mitglied von ENEMO. Melkonyants selbst war nicht in die internationale Arbeit involviert.
„Die Materialien von ‚Golos‘ enthalten voreingenommene Schlussfolgerungen über die Unmöglichkeit fairer Wahlen in Russland. Pseudo-Experten kritisieren das russische Wahlgesetz, und das Verfahren der Fernwahl wird auf willkürlicher Grundlage in Frage gestellt“, sagte der Abgeordnete der Regierungspartei Vasily Piskarev.
Im Gefängnis bewahrt Melkonyants seinen charakteristischen sanften Humor. Er nennt seine Inhaftierung eine „ethnografische Expedition“. „Der Anfang war vielversprechend, und die Erwartungen haben sich erfüllt. Ich habe in drei Moskauer Untersuchungshaftanstalten gelebt, neun Zellen und mehr als 100 Zellgenossen gewechselt. Es war eine unvergessliche Erfahrung. Ich habe ein wunderschönes Mandala nach meinem Geburtsdatum gezeichnet, mich an das Anschauen von Nachrichtensendungen und der ‚Patrouilleneinheit‘ im Fernsehen gewöhnt, von Tee auf Zichorienkaffee umgestellt und gelernt, Essen mit einem Wasserkocher und zwei Plastikwannen im Wasserbad zu erhitzen“, schrieb er in einem Brief. Er schickte auch eine Playlist mit Liedern an seine Unterstützer, die im Gefängnis um sechs Uhr morgens laut gespielt werden.
Als echter Experte für Wahlrecht beobachtet Melkonyants selbst aus dem Gefängnis Wahlen. Nach der Abstimmung bei den Präsidentschaftswahlen 2024 schickte er „aus Gewohnheit“ Empfehlungen zur Verbesserung des Wahlverfahrens an die Zentrale Wahlkommission. Auch nach seiner Verhaftung besteht er darauf, dass man an Wahlen, auch wenn sie nicht fair sind, teilnehmen sollte, obwohl die Behörden schon lange versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Wahlprozess sinnlos ist, und nur kontrollierte Wählergruppen zu den Wahllokalen bringen.
„In unserer Verfassung ist die Freiheit als Hauptanforderung an Wahlen festgelegt – sie müssen frei sein. Ich habe 21 Jahre meines Lebens der Verwirklichung dieses vieldeutigen Grundsatzes gewidmet und bereue es nicht. Ich bin überzeugt: Alles war nicht umsonst. Eines Tages werden wir gemeinsam den Traum von freien Wahlen verwirklichen“, schrieb Melkonyants aus dem Gefängnis.
In den Medien heißt es, dass die Verhaftung von Melkonyants viele systemnahe Politiker und Beamte in Russland schockiert habe. Die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilova, äußerte vorsichtige Unterstützung für den Co-Vorsitzenden von „Golos“: „Ich hoffe sehr, dass die Angelegenheit objektiv geklärt wird, denn seine oft professionelle Kritik hat uns manchmal sehr geholfen.“
Das Menschenrechtszentrum „Memorial“, das Melkonyants als politischen Gefangenen anerkannt hat, erklärte: „Der einzige Zweck von ‚Wahlen‘ in Zeiten eines aggressiven Krieges ist es, das Maß an Unterstützung für das bestehende politische Regime zu demonstrieren, das im Namen des Volkes eine Blankovollmacht für die Fortsetzung dieses Krieges erhalten will. Diese Zielsetzung schließt jegliche Versuche der Gesellschaft aus, am Wahlprozess teilzunehmen oder ihn zu kontrollieren, und setzt Mechanismen politischer Repression in Gang.“
ÜBER DAS RUSSISCHE GEFÄNGNIS
Es ist schwer, Menschen in Westeuropa zu erklären, was ein russisches Gefängnis ist. Man sagt, das Gefängnis sei das Spiegelbild der Gesellschaft. Ist die Gesellschaft eines Landes eine humane, gesetzestreue, wird auch das Gefängnis human sein. In einer tyrannischen Gesellschaft jedoch werden Menschen gedemütigt und vernichtet – auch im Gefängnis.
Das Ziel und die Aufgabe des russischen Strafvollzugssystems ist es nicht, einen Menschen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, sondern die Persönlichkeit des Häftlings zu zerstören. Es herrscht dabei ein legalisiertes System stumpfer und grausamer Demütigung, das die meisten anderen Länder als Folter betrachten würden. Absurd lange Haftstrafen, fehlende warme Kleidung in eiskalten,
ungezieferverseuchten Zellen, kein Kontakt zu den Angehörigen, Prügelstrafe wegen minimaler „Regelverstöße“, Verweigerung notwendiger medizinischer Versorgung, widerwärtiges Essen und schlechtes Wasser, wovon die Zähne verrotten...
Gerade jetzt, in diesem Moment, wenn Sie diesen Text hören, finden sich die Helden unserer Ausstellung allein auf sich gestellt in diesem menschenverachtenden Strafsystem. Stellen Sie sich vor, wie sie jetzt fühlen müssen und unterstützen Sie sie!
Autorin Victoria Ivleva